Freitag, 20. Juli 2012

Nomen est Omen, Klappe: die Zweite


Seit unserer Hochzeit habe ich einen neuen Namen. Einen ur-deutschen Namen. Er ist so deutsch, dass er in einem krassen Gegensatz zu meinem vorherigen (polnischen) Namen steht.  Aus Rosa Brokkoli wurde sozusagen Rosa Kartoffel. Der Germanisierungsprozess ist abgeschlossen. Keiner fragt mehr, woher ich komme. Plötzlich werde ich im Gespräch damit angesprochen, während früher das direkte Ansprechen vermieden wurde. Ich muss zwar immer noch buchstabieren, aber nur noch einmal und nicht mehr zehn Mal die Reihenfolge der verschiedenen Vokale und Konsonanten aufzählen. Keine verhunzte Aussprache (wobei die noch nicht mal schwierig war, kein rz, sz, cz kommt vor. Nur ein y und das wird wie ein kurzes i und nicht wie ein ü ausgesprochen!). Und es fühlt sich komisch an, dass alles plötzlich so einfach ist. Wann ist es wohl soweit, dass ich mich daran gewöhne? Und so einfach war es bis hierhin gar nicht.



Am 07. Juli 2012 jährte sich unsere Ankunft in Deutschland zum 26. Mal. Meine Eltern erzählen uns ab und zu von damals, der Zeit im Sozialismus. Es ist oft schwer nachzuvollziehen, weil wir so etwas nicht kennen. Beispielsweise das Gefühl in den Supermarkt zu fahren, um Zucker zu kaufen, der aber nicht da ist und deshalb mit Mehl zurück zu kommen. Das Gefühl,  das mein Vater hatte, als er mit meinem Bruder im Laden stand, dieser Schokolade wollte, aber nicht verstehen konnte, warum er sie nicht gekauft bekam, obwohl sie offensichtlich im Regal lag und mein Vater auch genügend Geld dabei hatte. Wie erklärt man einem Fünfjährigen den Sinn und Zweck von Essensmarken? Das Gefühl, mit einer Flasche Wodka doch noch Benzin zu bekommen, obwohl der Tankwart angeblich keines mehr hat. Sowieso alles mit Wodka zahlen zu müssen und deshalb mit dem besten Freund im Keller schwarz Schnaps zu brennen. Das Gefühl, für den Studienabschluss eine schlechtere Note zu bekommen, weil man kirchlich geheiratet hat. Ständig auf der Hut sein zu müssen, Sperrstunden, neugierige Nachbarn, ständige Beobachtung. 



Die Eltern meiner Mutter waren (und sind es natürlich noch immer) Deutsche. "Wo sollten wir denn sonst hingehen nach dem Krieg? Wir wollten einfach nur nach Hause", sagt meine Oma immer, wenn sie von ihrer Rückkehr nach Schlesien erzählt.  Irgendwann um 1980 durften sie und ihre unverheirateten Kinder (zwei meiner Onkel) nach Deutschland zurück. Meine Mutter und ihr älterer Bruder mussten mit ihren Familien da bleiben. Besucht wurde so oft es ging, allerdings immer mit Einschränkungen: ein Elternteil und ein Kind mussten zur Absicherung in Polen bleiben. Vor der Deutschlandreise mussten Ausreisegenehmigungen und Visen beantragt werden, nach der Reise mussten diese wieder abgegeben werden. Und bei dieser Gelegenheit wurde man gleich mal verhört und musste Deutschland schlecht machen. Von harmonischem Familienurlaub also keine Spur. 1986 wurde es meinem Vater zu bunt: soweit ich mich an die Erzählungen erinnere, hatte meine Mutter und mein Bruder bereits eine Ausreisegenehmigung erhalten. Er hätte wieder in Polen bleiben müssen. Kurzerhand beantragte er für die restliche Familie einfach so auch Genehmigungen. "Was soll denn das? Ich kann nicht mal mit meiner Frau und meinen drei Kindern meine Schwiegereltern besuchen!", erzählte er. Was in dem Beamten vorging, der den Antrag bearbeitete, weiß niemand, aber mein Vater hielt kurz darauf fünf Visa in der Hand. 



Die Entscheidung fiel schnell. Niemand durfte davon erfahren. Außer den engsten Familienmitgliedern wusste niemand über die Entscheidung Bescheid. Das Auto wurde gepackt: lediglich ein paar Sommersachen und eben das "Nötigste" kamen mit. Der Rest (Möbel, Kleidung, Freunde, Beruf und Familie) musste zurück bleiben. Mit gerade mal Mitte 30 gaben meine Eltern ihr Leben auf. Ein gutes Leben. Aber kein freies Leben. Und fuhren in einem rostroten Dreitürer (bei dem ich mir immer wünschte, mein Papa möge doch bitte auch hinten Türen rein schneiden) und drei Kindern auf der Rückbank in Richtung ungewisse Zukunft.
Jobs in Aussicht: 0.
Wohnung in Aussicht: 0. 
Sprachkenntnisse: keine.



Wir zogen zunächst bei meinen Großeltern ein. Meine Eltern besuchten die Sprachschule, mein älterer Bruder kam in die 5. Klasse der Hauptschule (und war eindeutig unterfordert, weshalb er dann in Klasse 7 schnurstracks aufs Gymnasium kam), mein jüngerer Bruder in die erste Klasse und ich mit meinen drei Jahren in den Kindergarten. Ich lernte schnell Deutsch und so kam es, dass meine Eltern trotz Sprachschule irgendwann nicht verstehen konnten, was ihr eigenes Kind zu ihnen sagte. Mein Vater, früher Direktor einer Grund- und Hauptschule, schulte um. Meine Mutter absolvierte ein Anerkennungsjahr und bekam in dem Kindergarten, in dem ich war, eine Stelle. Beide arbeiteten hart. Sehr hart. Und erfüllten sich, und vor allem uns, nach gerade mal sieben Jahren den Traum vom Eigenheim. 



Man könnte uns als "erfolgreich integriert" bezeichnen. Wir sind deutsch. Wir fühlen uns deutsch. Wir denken auf deutsch. Beim WM-Spiel Deutschland gegen Polen 2006 drückten wir Deutschland die Daumen. 1987 haben wir unsere polnische Staatsangehörigkeit abgegeben und dafür die deutsche angenommen. Das war aufgrund der deutschen Abstammung meiner Mutter vermutlich einfacher als bei manch anderen, kostete aber trotzdem einen Haufen Geld. Als Kind habe ich mich oft gefragt, was ich bin: Polin? Deutsche? Nirgendwo schien ich hundertprozentig dazuzugehören. Nicht richtig deutsch, nicht richtig polnisch. Irgendwo dazwischen. Erst mit 20 wusste ich: Ich bin Deutsche - mit polnischen Wurzeln. Ich kenne nur deutsche Sprichwörter (wenn auch weniger, als Leute mit deutschen Wurzeln), habe ein paar der Meisterwerke der großen Dichter und Denker Deutschlands gelesen (dagegen nur ein einziges Polnisches und das auch nur in der deutschen Übersetzung), meine Muttersprache ist deutsch (nicht polnisch! Niemals!),  ich habe nunmal mein Leben hier verbracht. Alles war gut. Keiner hat dieses Gefühl je zur Diskussion gestellt, denn ich kenne viele, die von sich behaupten, sie wären nicht deutsch, obwohl sie eine ähnliche Geschichte haben wie ich. Alles war gut.



Bis ich im Januar unsere Ehe anmelden wollte. Plötzlich wollte das Standesamt Karlsruhe jede Menge 25 Jahre alten Papiere sehen. Vollkommen unnötig. Einfach nur so, weil sie es so wollten. Plötzlich war ich nicht mehr deutsch sondern Polin. Eine vertriebene Polin mit deutscher Staatsangehörigkeit. An dieser Stelle nur kurz: es hat geklappt. Ich musste, nach langen Diskussionen, keines dieser Dokumente vorlegen. Und: ich bin verheiratet. Durch und durch Deutsche. Mit polnischen Wurzeln.
Und während ich mich also langsam an den neuen Namen gewöhne und täglich erstaunt bin, wenn mich jemand so nennt, denke ich jedes Mal an meinen Mädchennamen. Daran, was erst alles passieren musste, damit ich die werde, die ich heute bin. Daran, was meine Eltern (für mich) auf sich genommen haben. Welchen Mut sie aufbringen mussten, welche schwierigen Entscheidungen sie treffen mussten und wie stark sie sein mussten. 
Dafür: 
Danke.




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