Seit unserer Hochzeit habe ich einen neuen Namen. Einen
ur-deutschen Namen. Er ist so deutsch, dass er in einem krassen Gegensatz zu
meinem vorherigen (polnischen) Namen steht.
Aus Rosa Brokkoli wurde sozusagen Rosa Kartoffel. Der
Germanisierungsprozess ist abgeschlossen. Keiner fragt mehr, woher ich komme.
Plötzlich werde ich im Gespräch damit angesprochen, während früher das direkte
Ansprechen vermieden wurde. Ich muss zwar immer noch buchstabieren, aber nur
noch einmal und nicht mehr zehn Mal die Reihenfolge der verschiedenen Vokale
und Konsonanten aufzählen. Keine verhunzte Aussprache (wobei die noch nicht mal
schwierig war, kein rz, sz, cz kommt vor. Nur ein y und das wird wie ein kurzes
i und nicht wie ein ü ausgesprochen!). Und es fühlt sich komisch an, dass alles
plötzlich so einfach ist. Wann ist es wohl soweit, dass ich mich daran gewöhne?
Und so einfach war es bis hierhin gar nicht.
Am 07. Juli 2012 jährte sich unsere Ankunft in
Deutschland zum 26. Mal. Meine Eltern erzählen uns ab und zu von damals, der
Zeit im Sozialismus. Es ist oft schwer nachzuvollziehen, weil wir so etwas
nicht kennen. Beispielsweise das Gefühl in den Supermarkt zu fahren, um Zucker
zu kaufen, der aber nicht da ist und deshalb mit Mehl zurück zu kommen. Das
Gefühl, das mein Vater hatte, als er mit
meinem Bruder im Laden stand, dieser Schokolade wollte, aber nicht verstehen
konnte, warum er sie nicht gekauft bekam, obwohl sie offensichtlich im Regal
lag und mein Vater auch genügend Geld dabei hatte. Wie erklärt man einem
Fünfjährigen den Sinn und Zweck von Essensmarken? Das Gefühl, mit einer Flasche
Wodka doch noch Benzin zu bekommen, obwohl der Tankwart angeblich keines mehr
hat. Sowieso alles mit Wodka zahlen zu müssen und deshalb mit dem besten Freund
im Keller schwarz Schnaps zu brennen. Das Gefühl, für den Studienabschluss eine
schlechtere Note zu bekommen, weil man kirchlich geheiratet hat. Ständig auf
der Hut sein zu müssen, Sperrstunden, neugierige Nachbarn, ständige
Beobachtung.
Die Eltern meiner Mutter waren (und sind es natürlich
noch immer) Deutsche. "Wo sollten wir denn sonst hingehen nach dem Krieg?
Wir wollten einfach nur nach Hause", sagt meine Oma immer, wenn sie von
ihrer Rückkehr nach Schlesien erzählt.
Irgendwann um 1980 durften sie und ihre unverheirateten Kinder (zwei
meiner Onkel) nach Deutschland zurück. Meine Mutter und ihr älterer Bruder
mussten mit ihren Familien da bleiben. Besucht wurde so oft es ging, allerdings
immer mit Einschränkungen: ein Elternteil und ein Kind mussten zur Absicherung
in Polen bleiben. Vor der Deutschlandreise mussten Ausreisegenehmigungen und Visen beantragt werden, nach
der Reise mussten diese wieder abgegeben werden. Und bei dieser Gelegenheit wurde
man gleich mal verhört und musste Deutschland schlecht machen. Von harmonischem
Familienurlaub also keine Spur. 1986 wurde es meinem Vater zu bunt: soweit ich mich an die Erzählungen erinnere, hatte meine Mutter und mein Bruder bereits eine Ausreisegenehmigung erhalten. Er hätte wieder in Polen bleiben müssen. Kurzerhand beantragte er für die restliche Familie einfach so auch Genehmigungen. "Was soll denn das? Ich
kann nicht mal mit meiner Frau und meinen drei Kindern meine Schwiegereltern
besuchen!", erzählte er. Was in dem Beamten vorging,
der den Antrag bearbeitete, weiß niemand, aber mein Vater hielt kurz darauf fünf Visa in der Hand.
Die
Entscheidung fiel schnell. Niemand durfte davon erfahren. Außer den engsten
Familienmitgliedern wusste niemand über die Entscheidung Bescheid. Das Auto
wurde gepackt: lediglich ein paar Sommersachen und eben das
"Nötigste" kamen mit. Der Rest (Möbel, Kleidung, Freunde, Beruf und
Familie) musste zurück bleiben. Mit gerade mal Mitte 30 gaben meine Eltern ihr
Leben auf. Ein gutes Leben. Aber kein freies Leben. Und fuhren in einem rostroten Dreitürer (bei dem
ich mir immer wünschte, mein Papa möge doch bitte auch hinten Türen rein
schneiden) und drei Kindern auf der Rückbank in Richtung ungewisse Zukunft.
Jobs in Aussicht: 0.
Wohnung in Aussicht: 0.
Sprachkenntnisse: keine.
Wir zogen zunächst bei meinen Großeltern ein. Meine
Eltern besuchten die Sprachschule, mein älterer Bruder kam in die 5. Klasse der
Hauptschule (und war eindeutig unterfordert, weshalb er dann in Klasse 7
schnurstracks aufs Gymnasium kam), mein jüngerer Bruder in die erste Klasse und
ich mit meinen drei Jahren in den Kindergarten. Ich lernte schnell Deutsch und
so kam es, dass meine Eltern trotz Sprachschule irgendwann nicht verstehen
konnten, was ihr eigenes Kind zu ihnen sagte. Mein Vater, früher Direktor einer
Grund- und Hauptschule, schulte um. Meine Mutter absolvierte ein
Anerkennungsjahr und bekam in dem Kindergarten, in dem ich war, eine Stelle.
Beide arbeiteten hart. Sehr hart. Und erfüllten sich, und vor allem uns, nach
gerade mal sieben Jahren den Traum vom Eigenheim.
Man könnte uns als "erfolgreich integriert"
bezeichnen. Wir sind deutsch. Wir fühlen uns deutsch. Wir denken auf deutsch.
Beim WM-Spiel Deutschland gegen Polen 2006 drückten wir Deutschland die Daumen.
1987 haben wir unsere polnische Staatsangehörigkeit abgegeben und dafür die
deutsche angenommen. Das war aufgrund der deutschen Abstammung meiner Mutter
vermutlich einfacher als bei manch anderen, kostete aber trotzdem einen Haufen
Geld. Als Kind habe ich mich oft gefragt, was ich bin: Polin? Deutsche?
Nirgendwo schien ich hundertprozentig dazuzugehören. Nicht richtig deutsch,
nicht richtig polnisch. Irgendwo dazwischen. Erst mit 20 wusste ich: Ich bin
Deutsche - mit polnischen Wurzeln. Ich kenne nur deutsche Sprichwörter (wenn
auch weniger, als Leute mit deutschen Wurzeln), habe ein paar der Meisterwerke
der großen Dichter und Denker Deutschlands gelesen (dagegen nur ein einziges
Polnisches und das auch nur in der deutschen Übersetzung), meine Muttersprache
ist deutsch (nicht polnisch! Niemals!),
ich habe nunmal mein Leben hier verbracht. Alles war gut. Keiner hat
dieses Gefühl je zur Diskussion gestellt, denn ich kenne viele, die von sich
behaupten, sie wären nicht deutsch, obwohl sie eine ähnliche Geschichte haben
wie ich. Alles war gut.
Bis ich im Januar unsere Ehe anmelden wollte. Plötzlich
wollte das Standesamt Karlsruhe jede Menge 25 Jahre alten Papiere sehen.
Vollkommen unnötig. Einfach nur so, weil sie es so wollten. Plötzlich war ich
nicht mehr deutsch sondern Polin. Eine vertriebene Polin mit deutscher
Staatsangehörigkeit. An dieser Stelle nur kurz: es hat geklappt. Ich musste, nach
langen Diskussionen, keines dieser Dokumente vorlegen. Und: ich bin
verheiratet. Durch und durch Deutsche. Mit polnischen Wurzeln.
Und während ich mich also langsam an den neuen Namen
gewöhne und täglich erstaunt bin, wenn mich jemand so nennt, denke ich jedes
Mal an meinen Mädchennamen. Daran, was erst alles passieren musste, damit ich
die werde, die ich heute bin. Daran, was meine Eltern (für mich) auf sich
genommen haben. Welchen Mut sie aufbringen mussten, welche schwierigen
Entscheidungen sie treffen mussten und wie stark sie sein mussten.
Dafür:
Danke.